Anliegen
Der Begriff der Diaspora (gr. διασπορά: Zerstreuung, Verstreutheit, vgl. Dtn. 28, 64 LXX) fand ursprünglich in der christlichen Theologie Verwendung und bezog sich hier zunächst auf das Exil des jüdischen Volkes (Galut, hebr. גלות) und späterhin auf christliche Minderheiten. Dem Forschungsnetzwerk ‘Diaspora Studies’ dient der Begriff Diaspora nicht nur zur Bezeichnung unterschiedlicher religiöser, sondern auch nationaler, kultureller, ethnischer Gemeinschaften, die sich vielfach auch durch ihre technologische und/oder ökonomische Spezialisierung auszeichnen. Kennzeichnend für Diasporen sind Akteure, die weltweit verteilt sind, über die sie kennzeichnende geographische Distanz aber zugleich miteinander im transnationalen Austausch stehen. Diasporische Gemeinschaften als Gemeinschaften in gesellschaftlichen Mehrheitssituationen bestätigen sich ihre kollektive Identität über ein gemeinsames, ggf. transgenerationales Ursprungsnarrativ bzw. 'Bekenntnis'. Das gemeinsame Bekenntnis ist grundlegend für die Stabilisierung von Bindungskräften innerhalb der Gemeinschaften und für den Aufbau von Resilienz resp. von Widerstandskraft gegenüber Assimilationserwartungen in den Mehrheitsgesellschaften: Je schwächer dieses Bekenntnis ausfällt, desto eher löst sich die diasporische Gemeinschaft auf; andererseits: Je stärker dieses Bekenntnis ausgeprägt ist, desto eher wird der gesellschaftlichen Segregation der diasporischen Gemeinschaft Vorschub geleistet. Diasporische Gemeinschaften stehen demnach vor der paradoxalen Herausforderung, ihre Identität zu bewahren, ohne zugleich gesellschaftlich desintegriert zu werden.
Zentrale Aufgaben des Forschungsnetzwerkes sind die interdisziplinäre Ausschärfung des Verständnisses des Begriffs Diaspora sowie die Fortschreibung der methodischen Erforschung von Diasporagemeinschaften. Dazu untersucht das Forschungsnetzwerk ‘Diaspora Studies’ in multidimensionaler Weise Diasporen in Geschichte und Gegenwart aus primär drei Blickwinkeln:
- Diasporen als transnational agierende Gemeinschaften im globalen ökonomischen Wettbewerb. Signifikante Innovationen im Verkehrs- und Kommunikationswesen, aber auch die Liberalisierung der Märkte und Maßnahmen der Deregulierung haben in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Deterritorialisierung und erhöhten Mobilität verschiedener sozialer Gemeinschaften geführt. Die räumliche Dispersion und ihre hohe Mobilität gestatten ihnen die Bereitstellung und das Nutzen von Ressourcen im globalen Maßstab, was sie in eine vorteilhafte Lage gegenüber solchen Akteuren versetzt, die lediglich an einem bestimmten Standort ökonomische Aktivitäten unterhalten. Derart translokal ausgerichtete Unternehmer werden damit zu einem wesentlichen Treiber von Globalisierung. Die Auseinandersetzung mit derartigen Akteuren, den über sie erfolgenden Wissenstransfers und den regionalen Implikationen ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten bilden ein zentrales Anliegen der Diasporaforschung in Jena.
- Diasporen als religiöse, sprachliche, kulturelle, ethnische oder nationale Minderheiten in Mehrheitsgesellschaften. Die Bezugnahmen und Aushandlungsprozesse zwischen diasporischen Gemeinschaften und ihren Akteuren untereinander und mit der Mehrheitsgesellschaft ist Gegenstand historisch-systematischer und empirischer Vorhaben der Diasporaforschung in Jena. Diese Vorhaben setzen sich mit der Entwicklung von Diasporagemeinden, die im Zuge der globalen Wanderungsbewegungen der letzten anderthalb Jahrzehnte in Europa und speziell in Deutschland entstanden sind. Speziell werden hier die Begegnungsformen und Aushandlungsprozesse zwischen Diasporen und der Mehrheitsgesellschaft wie auch untereinander untersucht.
- Diasporen als globale Prozesse der transnationalen Vergemeinschaftung und der Herausbildung postmigrantischer Gesellschaften. Mit fortschreitender Globalisierung und Digitalisierung entstehen mit Diasporen neue politisch-geographische Formationen und Räume. Von besonderem Interesse sind dabei die dadurch eröffneten Möglichkeitsräume translokalen politischen Handelns. Ein Fokus der Diaspora- und Transnationalismusforschung in Jena liegt dabei auf der kritischen Betrachtung affektiver und alltäglicher Geopolitiken.